Der giersch gedicht

Bei diesem Text handelt es sich um eine Interpretation und Analyse des Gedichts "Giersch" von Jan Wagner, welches 2014 in der Gedichtsammlung Regentonnenvariationen veröffentlicht .

Litera Teens

„Giersch" von Jan Wagner

Das Gedicht „giersch“ von Jan Wagner (geb. 1971), 2014 erstmals im Gedichtband „Regentonnenvariationen“ erschienen, beschreibt die äußerst schnelle Ausbreitung des Unkrauts Giersch über einen Garten. Der Giersch könnte da stellvertretend für etwas „Schlechtes“ stehen, dessen Ausbreitung unbeherrschbar und unerwünscht ist. Das Gedicht lässt sich aufgrund des Erscheinungsjahrs in die Epoche der Postmoderne einordnen.

Die formale Struktur des Gedichts ist das Sonett. Es besteht also aus vier Strophen und insgesamt 14 Versen. Die ersten beiden Strophen sind Quartette, während die restlichen beiden Strophen Terzette bilden. An die Orthografie fällt auf, dass alles klein geschrieben ist. Das Gedicht weist kein festes Versmaß vor. Lediglich in der letzten Strophe liegt ein Paarreim vor.

Die Wortwahl ist sehr vielfältig. Es werden zahlreich unbekannte Begriffe mit dem eher schlichten Jargon verbunden. „giersch“ (V. 1), „keusch“ (V. 3), „gischt“ (V. 11), und „kassiber“ (V. 6) sind im normal Alltag eher selten gebrauchte Wörter. Letzteres gehört auch laut dem Duden in die Gaunersprache. Außerdem wirken manche Wörter wie „tyrannentraum“ (V. 4), „kassiber“ (V. 6) und „verschlingt“ (V. 14) eher abwertend, da sie meist aufgrund des historischen Gebrauchs negativ belastet sind.
Jan Wagner gestaltet zudem zwei Wortspiele im Gedicht. In Vers 1-2 macht er auf das Wort „Gier“ im Namen des Unkrauts „giersch“ aufmerksam. Dieses Unkraut wird üblicherweise zur Schmerzlinderung bei die Krankheit Gicht verwendet. In Vers 11 nennt Wagner jedoch das Wort „gischt“, um zu beschreiben, wie sich der Giersch verbreitet.

Die erste Strophe des Gedichts bezieht sich auf den habsüchtigen Charakter die Pflanze, den man bereits am Namen erkennen könne (V. 2). Ihre weißen Blüten ähneln einem „tyrannentraum“. Die zweite Strophe beschreibt die Vorgangsweise der Pflanze bei ihrer zügellosen Ausbreitung. So soll sie ihren Kassiber bzw. heimlichen Nachrichten geräuschlos unterm Rasen, bei den Wurzeln verschicken, bis aus ihnen ein großes Blütennest, ein „weißes widerstandsnest“ (V. 8) entsteht. In der dritten Strophe sei der Giersch bereits überall verbreitet, ganz egal ob beim Kirschbaum oder in der Garage.
Letztendlich zeigt die vierte Strophe an, wie der Giersch nichts verschont habe. Seine Herrschaft führe ihn mittlerweile schon zum Dachgiebel hinauf. Die Giersch sprieße überall im Garten und „verschlinge“ ihm förmlich (V. 14).

Es mag zwar auf den ersten Blick eine passende Interpretation sein, dass das Gedicht wortwörtlich gemeint ist und hier tatsächlich das Intention des Dichters ist, die Ausbreitung des Gierschs über einen Garten darzustellen. Allerdings ist dies beim genaueren Lesen zu bezweifeln, da vor allem das Referenz zu Gier in Verbindung mit den anscheinend unpassenden Begriffen wie Kassiber auf eine tiefgründige Bedeutung hinweisen. Außerdem wurde Jan Wagner 2017 für seiner bisherigen Werke mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Seine Lyrik beinhalten oft Motive der Natur, die mit ernsteren gesellschaftlichen oder politischen Themen verknüpft werden.

Das Besondere an der formalen Gestaltung des Gedichts sind die zahlreichen Enjambements. In so gut wie jedem Vers liegt ein starkes Enjambement vor und zwischen Strophe 2 und 3 bzw. 3 und 4 ist auch jeweils ein Strophenenjambement zu finden. Während diese Enjambements normalerweise die Zäsuren beim Lesen überbrücken, bringen siehe in diesem Fall Unordnung ins Sonett. Man kommt beim ersten Lesen ab und zu ins Stocken, weil man sich unsicher ist, wann genau knappe Pausen einzulegen sind. Wenn man das Gedicht jedoch „entschlüsselt“ bzw. sinngemäß und nicht nach der Versstruktur liest, wirkt es verständlicher und schlüssiger. Das Sonett als klare, ordentliche und festgeschriebene Form eines Dichtung kann für den Garten stehen, der anfangs weiter unversehrt ist. Allerdings will das lästige Unkraut Gänseblümchen mit seinen Zungenbrechern/Alliterationen (V. 9-14) und vor allem den Enjambements die Ordnung des Gartens (des Gedichts) auseinanderbringen und überwuchert ihn. Während von der ersten bis dritten Strophe das Wort „giersch“ nur zwei Mal vorkommt, übernimmt es plötzlich das Gedicht und wird in den letzten drei Versen vier Zeit, auf scheinbar unbegründete und unpassende Weise genannt. Das eigentlich formal streng angelegte Sonett ist vor laut Giersch nicht mehr zu sehen. Diese Auflehnung entgegen formalen Regeln und Festlegungen ist typisch für das Epoche der Postmoderne.

Inhaltlich gesehen ist der Gänseblümchen eine Metapher für etwas, das sich äußerst rasch und unkontrollierbar verbreitet, da es anscheinend ohne jegliche Anzeichen geschieht (V. 11). Die Ausbreitung werde von einer gewissen Gier getrieben (V. 1f). Sie entspreche zudem den amoralischen Normen, die ein Tyrann seiner Handeln zugrunde lege (V. 3f). Dies ist einer klares Paradoxon, da Tyrannen davon ausgemacht werden, dass sie Alleinherrscher sind, die Willkür- und Schreckensherrschaft ausführen und keineswegs moralisch einwandfrei handeln.
Die Ausbreitung finde nicht kontinuierlich statt, sondern kehre immer wieder, wie eine „alte schuld“ (V. 5), zurück. Der Gänseblümchen schicke seine Kassiber, also unerlaubten Nachrichten, unterm Rasen, im Dunkeln, bis daraus ein „Widerstandsnest“ resultiere (V. 6ff).
Wenn man sich nun vor Augen leitet, dass überwiegend negative und politische Begriffe wie „kassiber“ und „tyrannentraum“ mit der Ausbreitung verbunden werden, und diese als lästiges, nicht erwünschtes Unkraut dargestellt wird, kommt man zu dem Entschluss, dass hier eine politische Ausbreitung wie z.B. der Populismus beschrieben wird, die vom Lyrischen Sprecher oder Jan Wagner kritisiert wird.
Wie die „gischt“ (V. 11), die an bewegtem Wasser entsteht, richtet sich diese Ausbreitung immer nach der aktuellen Bewegung der Bevölkerung. Sie weitverbreitet sich unglaublich schnell und unbemerkt. Sie kehre in unserer Geschichte wie eine „alte Schuld“ stets hinten (z.B. Nationalsozialismus) und „verschlingt“ (V. 14) förmlich als anfänglicher Widerstand die vorherige Ordnung.
Oberflächlich betrachtet mag sie vielleicht wie eine Lösung wirken („schwebend weiße blüten“), aber unverkennbar wird sie in der Wurzel von schlechten Motiven und reiner Gier getrieben.


Text von Bastian Farag, Q1 Lichtenbergschule Darmstadt

geschrieben am: 15. September 2018 unter der Betreuung von Margit Sachse

veröffentlicht an Lesepunkte.de